Der Stadtsingechor (Teil 5)

Francke-Blätter 3/1994, S. 73 - 77, Dorothea Köhler

Die Geschichte des Stadtsingechores ist - aus welchem Grund auch immer - verbunden mit manchem künstlerischen Auf und Ab. Ich kann hier an dieser Stelle über eine Zeit berichten, die zum "Auf" gezählt werden kann. Sie war mit Schwierigkeiten gespickt, aber diese Aufwärtsentwicklung ist in Kritiken und mit Klangbeispielen - auch in Fernsehaufzeichnungen und Rundfunkaufnahmen auf Schallplatten oder CD - zu belegen. So kann jeder Leser, so er möchte, sich selbst ein Urteil bilden.

 

Vorwegzunehmen seien der zu besprechende Zeitraum, eine lange Zeit - die Jahre von 1961 bis 1990 - und die Bitte, daß der Verfasserin des Artikels das Schreiben in der Ich-Form gestattet sei. Ein Vierteljahrhundert mit dem Stadtsingechor verbunden gewesen sein, heißt, daß man nicht unpersönlich berichten kann.

Dorothea Köhler

Chordirektor von 1968 - 1990

So möchte ich es auch wie in den vorangegangenen Beiträgen halten und mich zunächst vorstellen: Musikalisches Elternhaus mit viel Hausmusik, Klavierunterricht, der fast zum Studiumwunsch wurde, Schulchor und Kirchenchor in Lauchhammer und Elsterwerda (u.a. mit allen großen Bachwerken, einschließlich der Möglichkeit, viel Orgel und Cembalo zu spielen), Abitur in Lauchhammer, Musiklehrerstudium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg u.a. bei Prof. Walther Siegmund-Schultze und Prof. Siegfried Bimberg, in den 70er Jahren Zusatzstudium Orchesterdirigieren an der Musikhochschule "Felix MendelssohnBartholdy" Leipzig bei den Professoren Rolf Reuter und Olaf Koch.

 

1964 trat der Stadtsingechor Halle in mein damals laufendes 3. Studienjahr. Der hallesche Knabenchor sollte wieder zum leistungsfähigen Konzert- und Oratorienchor aufgebaut werden. Ich erhielt die Chance, unter der Leitung von Chordirektor Carlferdinand Zech als Chorinspektor beim Stadtsingechor zu arbeiten. Meine Aufgabengebiete waren: Organisation, Musikunterricht, Korrepetition, Stimmbildung. Und unter der Anleitung des erfahrenen Chorleiters konnte ich Einstudierungsarbeit übernehmen und auch schon mal dirigieren. Das war eine Zeit! Ein volles Lehrerprogramm war zu absolvieren, mein Studium mußte ich extern (Lehrbefähigung bis zur Klasse 12) zum Abschluß bringen, aber das Schicksal nahm seinen Lauf. Das Arbeiten mit den Knabenstimmen (meine größten musikalischen Erlebnisse während meiner Schulzeit waren die Konzertbesuche beim Dresdener Kreuzchor gewesen!), die Beobachtung und Registrierung der Fortschritte, die wir nun mit den Jungen erreichten, faszinierte mich dermaßen, daß ich keinen Moment zögerte, das Amt des Chordirektors anzunehmen, als 1968 Carlferdinand Zech zur Universität überwechseln wollte. Hier schien sich eine einmalige Chance zu bieten, systematisch etwas wieder aufzubauen, was bei dem traditionsreichen Chor bereits einmal vorhanden war. Und, was für mich das Entscheidendste war, ich hatte die Chance, selber Musik nach meinen Vorstellungen zu machen! Und da ich sozusagen von der Pike auf alle Arbeitsbereiche der Chorarbeit schon mal durchlaufen hatte, schien mir alles machbar und erreichbar, besonders, da die Entwicklung des Chores für die ersten fünf Jahre in gemeinsamer Arbeit mit meinem damaligen Ehemann Wolfgang Köhler als tatkräftig, erfindungsreich und unkonventionell arbeitendem Chorinspektor geplant und durchgesetzt werden konnte.

 

Jung und ehrgeizig zu sein war das eine. Aber das andere war die Konzeption, die wir vorlegten. Sie war ausgerichtet auf das Profil des Stadtsingechores, das wir aus Chroniken kannten und wieder erreichen wollten. Und das versuchten wir in einer Zeit, in der nicht unbedingt jeder leitende Funktionär so auf Anhieb bei einem Chor einer Volksbildungseinrichtung das Singen von" Kirchenmusik" als notwendig erachtete, es als "Pionier- und FDJ-Arbeit" akzeptierte oder etwa gar unterstützen wollte. Aber wir waren hartnäckig und (un)geduldig, hatten einen klugen Helfer im damaligen Stadtschulrat Rudi Bitterlich, der bereits zu Zechs Zeiten unbürokratisch Chorklassen an der August-Hermann-Francke-Schule erlaubt hatte. (Eine offizielle Anerkennung durch das Ministerium für Volksbildung der DDR erfolgte erst nach mehr als 20 Jahren!) Die Choristen lernten und sangen an der damaligen Polytechnischen Oberschule "August Hermann Francke", wer Abitur machen wollte, ging dann hinüber zur Erweiterten Francke-Oberschule. Der Chor unterstand dem Rat der Stadt, Abteilung Volksbildung, und alle Mitarbeiter waren, auch in den folgenden Jahren, als Lehrer ausgebildet und angestellt. Diese Situation hatte Vor- und Nachteile. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen.

 

Zur besagten Konzeption möchte ich ein paar Bemerkungen machen. Sie wurde 1968 belächelt, abgelehnt oder als Höhenflug abgetan, je nach Temperament unserer Vorgesetzten oder deren Weitsicht. Aber mit "Zusätzen" und wirklichen Verbesserungen versehen, blieb sie Arbeitsgrundlage auf dem Weg des Stadtsingechores bis zum Jahr 1990.

 

Das Schattendasein des halleschen Knabenchores neben den großen Thomanern und Kruzianern mußte beendet werden! Jeder genannte Chor hatte seine Musik, seinen Meister, also kam für uns nur in Frage, die Aufführung händelscher Musik als zukünftiges Markenzeichen wieder anzustreben: der "Messias" wurde das Zauberwort für mich und den Chor.

 

Während aber schon bei der Namensnennung der „großen Brüder" alle Welt verklärte Augen bekam, hatten wir nur unsere Träume und Energie, ein Häuflein singender Knaben, kein Geld, aber interessierte und unterstützungswillige Eltern. Damit konnte man schon erst einmal beginnen!

 

Was stand in der Konzeption? Ich zitiere aus den Aufzeichnungen des 1. Elternabendes der neuen Chorleitung vom 12.9.68: Weiterentwicklung des Chores zu einem gemischten Chor, Aufbau eines Männerchores, regelmäßige Konzerttätigkeit, Mitwirkung bei halleschen Musikfestspielen: den Händelfestspielen und den Hallischen Musiktagen, Heranbilden von Stimmführern, Chorassistenten usw., Bildung eines Chorbeirates, Durchführung von Chorlagern, Choraustausch mit ausländischen Chören.

 

Ein aufmerksamer Leser wird festgestellt haben, daß sich hinter dem Begriff "Hallesche Musikfestspiele" der Aufbau einer zweiten Traditionslinie verbarg, die Beschäftigung mit neuer und neuester Musik, mit Neuschöpfungen und Uraufführungen, also mit Musik, die für einen Knabenchor geschrieben und damit für den Stadtsingechor geeignet ist. (Es gab in Halle immer genügend sehr guter Kinder- und Jugendchöre, die sich dem Gegenwartsschaffen widmeten und tolle Erfolge hatten, oft schneller als wir! Wir wollten die Knabenchorliteratur der Alten Meister erobern.)

 

Die Reaktion der Hallenser auf unsere Konzeption war Skepsis und Zustimmung zugleich, verständlicherweise. Auf Grund der angeordneten Umstrukturierungen der vergangenen Jahre waren die Jungen der Elternhäuser, die zur geistlichen Musik und zur Tradition des Chores gestanden hatten, weggeblieben. Und die Kinder derjenigen, die man nun zu erreichen glaubte, kamen nicht. "Kirchenlieder" singen, Koloraturen auf den Text "Ehre sei Gott in der Höhe", ein Halleluja oder ein Amen als Hausaufgabe zu trainieren, um Bachs "Weihnachtsoratorium" singen zu können, war doch recht ausgefallen.

 

Nur wenige glaubten auch daran, daß so eine neue Chorleitung "Kirchenmusik" machen könne und noch dazu innerhalb des sozialistischen Bildungssystems. Diese wenigen aber waren Wegbereiter - hier sei stellvertretend für viele, die Vertrauen hatten und Zeit und Kraft investierten, ein "ganz normaler Chorsänger" genannt: Leberecht Thiele, gleicher Jahrgang wie der "neue Chordirektor", als Knabe schon Sänger im Stadtsingechor und nun einer der ersten Sänger des neuen (traditionellen alten) "Extramännerchores".

 

Wenn wir damals gewußt hätten, daß es mehr als 20 Jahre dauert, bis alle unsere Vorstellungen wahr wurden!

Musikalische Klangdokumentationen dieser Zeit mit den Schallplatten der "devisenbringenden" Knabenchöre verglichen, ließ nüchtern einschätzen, daß noch viel fehlte, um akzeptiert zu werden, den Anschluß zu finden oder, wie man jetzt sagt, sich auf dem Markt zu behaupten. So, man möge mir den legeren Ausdruck verzeihen, biß sich die Katze in den Schwanz: Die Qualität und das Repertoire fehlten, um z.B. Konzert- und Reisewünsche von offizieller Stelle finanziert zu bekommen - und diese Qualität konnte lange nicht erreicht werden, weil das Geld fehlte, um Lehrer für die Ausbildung der Schüler einzustellen. Und dann konnten wir Sänger ja auch nur in Halle suchen, am besten nur aus dem Zentrum. Schüler aus den Randgebieten der Stadt gaben das Singen oft wieder auf, denn sie mußten mit argem Enthusiasmus oder unter Druck der Eltern schon früh um 7 Uhr zur sogenannten 0. Stunde zur Stimmbildung oder zum Chor kommen. Die "anderen" hatten die Auswahl aus der gesamten DDR (die Internate, die Bildungsmöglichkeit, die Konzert- und die Reisetätigkeit spielten da eine gewaltige Rolle!).

 

Der Leser des Beitrages in der heutigen Ausgabe der Francke-Blätter wird sich vielleicht fragen, weshalb die Verfasserin des vorliegenden Artikels nicht endlich etwas über die Musik schreibt, die sie plante, und ob sie diese dann auch wirklich mit dem Chor gemacht hat? Ehe der Versuch gewagt wird, in kurzer Form und trotzdem umfassend informierend über hunderte von Konzerten zu berichten, Fotos und Rezensionen auszuwerten, lassen Sie mich das Bild von der neuerlichen Aufwärtsentwicklung des Stadtsingechores zuvor abrunden mit einigen Bögen, die ich über die zu betrachtende Zeit schlagen will:

 

Erstens: Der musikalische Bogen spannt sich vom ein- bis dreistimmig gleichstimmigen Volkslied bis zu Händels "Messias".

 

Zweitens: Die Zahl der musikalischen, pädagogischen und technischen Mitarbeiter wuchs ständig und im Jahr 1990 standen mir für den gesamten "Betrieb" über 20 Mitarbeiter zur Verfügung.

 

Drittens: Hatten wir zu Beginn meiner Amtszeit im Jahr ca. 1000 Mark zur Verfügung, war der Haushalt des Stadtsingechores, ohne Gehälter (!), in meinem letzten Amtsjahr mit über 90 000 Mark angesetzt. Da konnte man für die Sänger schon planen!

 

Viertens: Dem Singen als Freizeitgestaltung mit gelegentlichem Mitwirken in Feierstunden oder ersten kleinen öffentlichen Konzerten standen bald regelmäßige Konzerte bei den Händelfestspielen, im Schauspielhaus Berlin, der Komischen Oper Berlin u.a. Konzertorten in der DDR, sowie Reisen nach Polen, der CSSR, Ungarn und Bulgarien und 1990 Italien gegenüber.

 

Fünftens: Und nun muß ich noch anführen, was manchen Nicht-Hallenser verblüffen wird, weil er nicht wußte, daß die Stadt, d.h. der Rat der Stadt, Abteilung Volksbildung, ohne viel Aufhebens davon zu machen, sehr viel getan hat für die Sänger ihres Knabenchores. Ich möchte das mit einigen Fakten belegen: Während die Sänger der 60er und 70er Jahre Chor (anfänglich 2 Std. pro Woche) und 1 Stunde Stimmbildung neben ihrem normalen Stundenpensum absolvierten, um ein Konzertprogramm einzustudieren, kam es nach einigen Jahren zur Bildung von reinen Knabenklassen. Es gab modifizierte Stundenpläne, die Musiklehrpläne der Chorklassen wurden durch unsere Fachkollegen selbst erarbeitet (und vom Ministerium für Volksbildung schließlich genehmigt). Alle Schüler hatten Gruppenstimmbildung oder Gesangsunterricht (Einzelunterricht), dazu wurde - wie alles war auch dieser Unterricht kostenlos - Klavier- oder nach Wahl Violin- oder Gitarrenunterricht erteilt. Die Klassenfrequenz bewegte sich im Durchschnitt zwischen 8 und 18 Schülern. Alle Schüler der Chorklassen wurden in den letzten Jahren meiner Amtszeit nach dem Abschluß der 10. Klasse, wenn es die Leistung zuließ, komplett als 11. Klasse an der EOS zum Abitur geführt. Und mit sieben Schülern aus Städten des Bezirkes Halle wurde wieder der Internatsbetrieb aufgenommen.

20 Jahre sind eine lange Zeit, aber eine geringe Zeitspanne für eine Entwicklungsphase dieser Ordnung. Die Choristen erwarben sich diese Ausbildungschancen selbst durch ihre jahrelange intensive Arbeit für den Chor mit Unterstützung der Eltern, für die Stadt, natürlich auch für sich selbst und als Gegenleistung erwartete dann die Stadt Halle hohe Qualität der musikalischen Leistung.

 

Damit aber zurück zum chronologischen Bericht: Das erste öffentliche Konzert des Stadtsingechores unter meiner Leitung fand am 5.12.1968 gemeinsam mit dem Mädchenchor der AHF und den Hallenser Madrigalisten, deren Mitglied ich war, in der Aula der Universität statt. Alte und neue Weihnachtslieder (Uraufführungen von Gerd Domhardt) erklangen.

 

Am Ende meines 1. Dienstjahres konnten wir innnerhalb eines Choraustausches mit einem ungarischen Chor in Budapest und Esztergom singen. Den Abschluß des Programmes bildete der Schlußchor aus der Bachkantate 206 "Schleicht, spielende Wellen", allerdings nur mit Klavierbegleitung.

 

Zum Weihnachtsfest 1970 sangen wir erstmals zusammen mit Solisten und Orchester. Mit der dazu in der „Freiheit“ erschienenen Kritik vom 15.12.1970 möchte ich den ersten Teil meiner Chronik abschließen.